Institutsgeschichte

Ein lieu de mémoire des Stifters und Gründers Franz de Paula von und zu Liechtenstein
(Marija Wakounig)


Die Anfänge des Instituts

Am 11. Dezember 1906 verließen 109 Holzkisten per Spedition die damalige zarische Hauptstadt St. Petersburg in Richtung kaiserliche Residenzstadt Wien. Die Fracht bestand aus etwa 10.000 Büchern, die nicht nur physisch schwerwiegend waren. Es befand sich darin eine ganze Reihe "verbotener Bücher", die auch ein halbes Jahrhundert später kaum problemlos die russische Grenze passiert hätten. Zwar erhoben sich schon damals in St. Petersburger Kreisen Stimmen gegen diesen Export, doch erstickten sie im russischen Winter und am Desinteresse der Behörden, die noch mit den Folgen der Revolution von 1905 und des russisch-japanischen Krieges beschäftigt waren. Auch andere europäische Zentren sollen sich für diese Bibliothek interessiert haben, aber am 5. Jänner 1907 landeten die Bücherkisten schließlich sicher in einem Kellerraum des Hauptgebäudes der Universität Wien am Ring.

Was damals wie eine Geheimdienstaktion begann, sollte der Institutionalsierung eines Forschungsunternehmens dienen, in dem die Beziehungen zwischen den beiden Kaiserreichen mittels Grundlagenforschung systematisch aufbereitet und der Wissenschaft, der interessierten Öffentlichkeit, dem diplomatischen Dienst sowie als Prävention von Auseinandersetzungen auch den Militärs zur Verfügung gestellt werden sollten. Von der dringenden Notwendigkeit verbesserungswürdiger historischer Kenntnisse überzeugt wurde Franz de Paula Prinz von und zu Liechtenstein (1853–1938) während seiner vierjährigen Botschaftertätigkeit (1894–1898) in Russland. Nach seiner Rückkehr ermöglichte und finanzierte der Prinz sowohl die Russischausbildung von Hans Uebersberger, als auch dessen Forschungsaufenthalte in St. Petersburg und Moskau und stiftete im November 1906 schließlich 40.000 Kronen für den Ankauf der Büchersammlung des bedeutenden russischen Historikers Vasilij Alekseevič Bil'basov (1838-1904); als Käufer trat das damalige Ministerium für Kultus und Unterricht in Erscheinung. Der in der Wissenschaftsgesellschaft bestens vernetzte Mäzen ermöglichte als (langjähriger) Obmann der Kommission für Neuere Geschichte Österreichs bei der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften im Jahr 1906 – noch vor der Gründung des Seminars (=Instituts) und der Existenz des Faches Osteuropäische Geschichte an der Universität Wien – die Publikation der ersten Habilitationsschrift zur Osteuropäischen Geschichte in Wien, und zwar Hans Uebersbergers Österreich und Rußland seit dem Ende des 15. Jahrhunderts. Band 1: Von 1488–1605. Liechtenstein blieb der von ihm gestifteten und somit gegründeten universitären Institution zeit seines Lebens finanziell und ideell verbunden, obwohl er sich zwischen 1929 und 1938 als Franz I. Regierender Fürst von Liechtenstein anderen Herausforderungen stellen musste.

Mit der wertvollen Bil'basov-Bibliothek als Grundausstattung (fundus instructus) wurde am 14. August 1907 das „Seminar für osteuropäische Geschichte" per Ministerialerlass ins Leben gerufen Die offiziellen Bezeichnungen des Instituts änderten sich mehrfach und spiegeln die Geschichte des Faches an der Universität Wien wider: Bis 1948 hieß es „Seminar für osteuropäische Geschichte", dann „Seminar für osteuropäische Geschichte und Südostforschung", ab 1956 „Institut für osteuropäische Geschichte und Südostforschung", ab 1978 „Institut für Ost- und Südosteuropaforschung" und seit 2000 „Institut für Osteuropäische Geschichte".

Aus der Geschichte des Instituts ist auch die international übliche Dreiteilung des Fachgebiets Geschichte Osteuropas ablesbar. Obwohl man von Anfang an mit zwei Teilgebieten (Osteuropa, Südosteuropa) startete – Ostmitteleuropa kam ab 1948 hinzu –, wurde nur die Geschichte Osteuropas im engeren Sinn (mit Schwerpunkt Russland und Polen) durchgehend unterrichtet. Diese erste Osteuropa-Dozentenstelle wurde 1910 in ein Extraordinariat und 1916 in eine ordentliche Professur für Osteuropäische Geschichte umgewandelt und stellt somit die Gründungsprofessur des Instituts dar. Sie wurde trotz mehrmaliger Nachbesetzung – seit 1934 insgesamt sechs Mal – erst im Zuge des UG 2002 denominiert und im Jahr 2017 als Professur für Russische Geschichte besetzt. Die Professur Slawische Philologie und Altertumskunde, die Konstantin Jireček ab 1893 zunächst am Seminar für slawische Philologie und von 1907 bis 1918 am Seminar für osteuropäische Geschichte innehatte, wurde erst 1965 zunächst als außerordentliche und ab 1967 als ordentliche Professur für Osteuropäische Geschichte mit besonderer Berücksichtigung der West- und Südslawen wiederbelebt; 1993 besetzte man sie als Professur für Geschichte Ostmitteleuropas und 2010 schließlich als Professur für Geschichte Ostmitteleuropas/”Nation Building”. Die gegenwärtige und seit 2005 besetzte Professur für Südosteuropäische Geschichte ging 1992 aus einer außerodentlichen Professur hervor, die 2000 (nach UOG 1999) in eine Professur umgewandelt wurde. Die seit 2012 besetzte Professur für Gesellschaften und Kulturen der Erinnerung im östlichen Europa entwickelte sich aus der ursprünglich 1994 eingerichteten außerordentlichen Professur, die 2000 (nach UOG 1999) als Professur für Osteuropäische Geschichte mit besonderer Berücksichtigung Ostmitteleuropas denominiert wurde; auch die seit April 2019 (nach §99/4 UG) besetzte Professur für Ost- und Südosteuropäische Geschichte ging aus einer außerordentlichen Professur hervor.

Das Institut heute

Das Fach Osteuropäische Geschichte besitzt an der Universität Wien seit über 110 Jahren einen hohen Stellenwert. Dies resultiert aus besonderen geopolitischen, wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen und mentalen Bedingungen Wiens und seinem spezifischen Umfeld. 

Am Institut sind gegenwärtig 19 MitarbeiterInnen beschäftigt, von denen 15 dem wissenschaftlichen und vier dem allgemeinen Universitätspersonal angehören. Im affiliierten „Research Cluster for the Study of East Central Europe and the History of Transformations” (RECET) finden außerdem seit 2017 Research Fellows und ProjektmitarbeiterInnen ausgezeichnete Arbeitsbedingungen vor. Während des akademischen Studienjahres kommt noch eine wechselnde Zahl von Lehrbeauftragten oder GastforscherInnen hinzu, die von verschiedenen Universitäten und Forschungseinrichtungen aus dem In- und Ausland stammen. Alle am Institut tätigen WissenschaftlerInnen sind studierte HistorikerInnen. Seit es keine eigene Studienrichtung Osteuropäische Geschichte mehr gibt (UOG 1975), sind alle in ihrer Lehrtätigkeit in die Studienrichtung Geschichte eingebunden. Dennoch wird großer Wert auf Interdisziplinarität in Lehre und Forschung gelegt; dies spiegelt sich nicht nur in der räumlichen Nähe zum Institut für Slawistik als gemeinsame Residenten des Hofes 3 am Universitätscampus wider, sondern auch in der Tatsache, dass an den Lehrveranstaltungen der Institutsmitglieder traditionell Studierende der Slawistik, der Politologie, der Judaistik, der Romanistik, der Byzantinistik usw. teilnehmen. Diesem Umstand wurde 2015 mit der Einrichtung des Masterstudiums Interdisziplinäre Osteuropastudien quasi Rechnung getragen. Zwischen 2007 und 2019 war das Institut überdies einer der Hauptträger des interdisziplinären Doktoratskollegs Galizien, einem Vorläufer der prospektiven Doctoral Schools an der Universität Wien. Seit 2007 ist das Institut außerdem Teil der neun weltweit vernetzten und vom Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Forschung geförderten Austrian and Central European Centers/Österreich und Ostmitteleuropazentren, die vielversprechenden PhDs jährliche Konferenzen sowie Austausch und Vernetzung mit internationalen WissenschaftlerInnen und Publikaktionsmöglichkeiten bieten.

Das Institut für Osteuropäische Geschichte darf sich mit Fug und Recht glücklich schätzen, historisch im deutschsprachigen Raum zum zweitältesten zu zählen und gegenwärtig wohl als einziges weltweit – dank seiner WissenschaftlerInnen – das gesamte dreigeteilte Fach in Lehre und Forschung in seiner geographischen Breite und historischen Tiefe vom Mittelalter bis in die Gegenwart anbieten zu können.

Das Institut und seine Memoria

Zur Tradition des Institutes gehört es, Feste zu feiern, wie sie fallen. Wurde der 50. Jahrestag im 51. Jahr im Juni 1958 u.a. mit einem Festakt an der Universität Wien, einer Ausstellung im Haus-, Hof- und Staatsarchiv und einem Empfang im Wiener Rathaus mit internationaler Beteiligung gefeiert, so legte zum 75. Gründungsjubiläum im 76. Jahr der damalige Vorstand eine der ersten in Österreich publizierten universitären Institutsgeschichten der Öffentlichkeit vor, in welcher die „häßlichen Jahre” des Nationalsozialismus bereits 1983 nicht ausgespart blieben. Das 100-jährige Jubiläum 2007 wurde im Rahmen eines Empfanges im Palais Liechtenstein in der Rossau mit Buchpräsentation und Ehrenvortrag des Fürsten Hans Adam II., einem Festvortrag im Großen Festsaal der Universität Wien und einem zweitägigen Kongress in den Institutsräumlichkeiten am Universitätscampus (30. September–2. Oktober 2007) würdig begangen. Der 111. Geburtstag des Instituts fiel mit dem 20-Jahr-Jubiläum des Campus der Universität Wien 1998–2018 zusammen. Gemeinsam mit dem Institut für Slawistik, mit dem sich unser Institut seit der Übersiedlung von der Liebiggasse auf den Universitätscampus den Hof 3 teilt, wurden unter dem Motto Faszination östliches Europa: viel/fältig – groß/artig – herr/lich eine Themenwoche (1.–6. Oktober 2018) und eine Ausstellung veranstaltet (https://iog.univie.ac.at/ueber-uns/20-jahre-campus/; https://stream.univie.ac.at/media/histkult/OstEuroGeschichte/trailer_oeg_lo.mp4). Aus diesem Anlass wurden auch die Ahnengalerie des Institutes, d.h. die Bildergalerie der Gründungspersonen sowie der bis dahin verstorbenen Vorstände, komplettiert und einige Bildunterschriften aufgrund neuer Erkenntnisse aktualisiert. Diese haben ergeben, dass die Idee von der grundlegenden Erforschung der russischen Geschichte und auch einer Institutionalisierung derselben während der Botschaftertätigkeit von Liechtenstein bereits Mitte der 1890-er Jahre ihren Ausgang in St. Petersburg genommen hat, wissenschaftlich motiviert war und keinem politischen Willensakt des mäzenatischen Stifters und Gründers entsprungen war. Mit anderen Worten: Ohne Bestrebungen von Franz Liechtenstein und ohne seine großzügige Stiftung hätte es das Fach und das Institut für Osteuropäische Geschichte an der Universität Wien entweder gar nicht oder erst sehr viel später gegeben.